Dieser Artikel erschien zuerst bei Haufe New Management, am 05. September 2019
Ich war schon ganz kurz vorm Boarding, plötzlich werden alle Passagiere für den Flug zurück nach Hamburg zurückgerufen. Warum? Weiß keiner. Eine Durchsage: Wir sollen uns alle an Schalter XY anstellen. Der Grund? Unbekannt. Dort stehen wir sehr lange. Unsere Daten werden nochmal aufgenommen. Wieso? Wissen wir nicht. Danach ein anderer Schalter, Wofür? Keine Ahnung. Taxis zu den Hotels werden gerufen, noch bevor jemand weiß, dass wir an diesem Tag Hamburg nicht mehr erreichen werden.
Das Ergebnis: Verzweifelte und müde Passagiere, völlig verloren und frustriert, machen aus reiner Verzweiflung, was man ihnen sagt. Typischer Flughafenwahnsinn? Ich sage, das ist inzwischen leider auch typisch agiler Wahnsinn im Unternehmenskontext.
Denn genau so irren agile Zombies durch die digitalen Unternehmen, völlig verloren und frustriert, und haben keine Ahnung, wohin die Reise gehen soll. Sie machen, was man ihnen sagt, weil alles andere ja sowieso keinen Sinn hat. Es gibt aber einen Unterschied zum Flughafendesaster: Diese Unternehmen landen mit ihren agilen Zombies im Stillstand, ich bin am nächsten Tag wenigstens wirklich in Hamburg gelandet.
Die Gretchenfrage
Wie kommt es in den Unternehmen zu so einer Situation? Am Beginn dieser Entwicklung steht eigentlich etwas Gutes. Unternehmen befassen sich mit der Digitalisierung, dem Marktgeschehen und dem Kunden. Es geht um Zukunftsfähigkeit und die nötige Metamorphose, um zukunftsfähig zu bleiben (oder zu werden). Die Gretchenfrage lautet: Müssen wir uns verändern? Die Antwort ist: Ja! Und das von nun an ständig und immer. Ein guter Anfang ist gemacht. Zumindest dann, wenn diese Frage für alle transparent gemacht und auch transparent und ehrlich beantwortet und nicht nur im oberen Management diskutiert wird.
Viele Unternehmen wollen agil werden - und suchen nach Blaupausen. Wenige denken daran, dass es ein eigenes Design für die je individuellen Gegebenheiten braucht.
Think outside the (Black) Box
Und dann? Dann passieren in der Regel zwei Dinge.
Erstens: Das Management schnappt sich Strategen und teure Berater, um zügig eine Lösung zu entwickeln. Agil ist ja gerade die Lösung für alles. Das Unternehmen soll also agil werden und das am besten schon morgen. Und morgen? Da wird die neue Welt über den Rest der Organisation „gekippt“, wie es jüngst bei der ING passiert ist. Diejenigen, die wirklich wissen, was im Unternehmen an Wert produziert wird, nämlich die Mitarbeitenden, sind selten an diesem Prozess beteiligt. Und die KundInnen noch seltener.
Die Zukunft wird in einer Black Box kreiert. Man ist sofort auf der operativen Ebene, redet über Modelle und Methoden, keiner redet über das System oder die Kultur. Meistens wird einfach ein Modell eines anderen Unternehmens kopiert. Hat ja da auch funktioniert. Alle Unternehmen machen so ungefähr das Gleiche. Es gibt Labs, Scrum, Kanban, Meetups, Lean Coffees und Flexible Offices, Squads, Tribes, und Chapters. Keiner kommt auf die Idee, dass es ein eigenes Design für die ganz individuellen Gegebenheiten braucht.
Zweitens: Der große Change wird natürlich kommuniziert, meistens so, dass trotzdem keiner versteht, warum das jetzt wirklich nötig ist. Sarah Yvonne Elsser hat solch eine Fehlkommunikation kürzlich in einem Vortrag wunderbar umschrieben. Ihr Beispiel: In der Filmreihe „Herr der Ringe“ sind verbündete Gefährten losgezogen, um die Welt zu retten. Das WHY war allen glasklar. Alles andere? Nebensächlich! Hätte ihnen jemand vor dem Aufbruch gesagt, dass sie dafür zuerst gegen 20 Bösewichte kämpfen, unter härtesten Bedingungen ans Ende der Welt reisen und dort dann einen Ring in einen Vulkan hätten werfen müssten, wie viele von ihnen wären wohl dann noch mitgegangen? Das ist aber genau das, was Unternehmen tun. Sie kommunizieren das WHY nicht so, dass es alle verstehen und verinnerlichen. Stattdessen wird über das Was und Wie ausschweifend gesprochen. Lust auf Wandel macht das nicht, das schreckt ab.
Die agile Sau im Dorf
Nach dem großen Change wird im Unternehmen vermeintlich agil gearbeitet und, was viel wichtiger ist, nach außen wird das als Hochglanz-Erfolgsstory präsentiert. Innen aber entsteht der erste Frust. Das Management, das alles begonnen hat, bricht als erstes goldene Regeln. Es will Kontrolle und Weisungsbefugnis wahren, kippt ständig neue Aufgaben in die Scrum-Teams oder priorisiert am Kanban-Board alles mit Triple A. Diese Missstände ziehen sich dann spürbar durch bis zum Mitarbeitenden, über alle (immer noch aktiven) Hierarchieebenen. Es entstehen Schattenorganisationen. An dieser Stelle fällt häufig der Satz: „Da wird jetzt nur wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben“. Es treten Konflikte und Störungen auf. Agile Coaches sollen richten, was von vornherein falsch lief. Gleichzeitig macht das Management Druck: „Das dauert alles zu lange, die Erfolge bleiben aus, warum passiert denn nichts, wir machen doch alles genau so wie Spotify?“
Agile ist Schuld!
Als nächstes werden Schuldige gesucht. Das ist zwar überhaupt nicht agil, macht aber auch nichts mehr. Hauptsache, jemand hat Schuld, das macht alles leichter erträglich. Oft ist es der Berater, der das Ganze mitentwickelt hat. Den kann man ja schnell wieder loswerden. Es muss also ein neuer Berater her. Das ganze Spiel beginnt von vorne, mit dem gleichen Ergebnis. Am Ende gibt es ganz klar einen Schuldigen: Agile!
„Agil funktioniert nicht, haben wir alles ausprobiert!“. Aber die meisten Unternehmen haben es nicht ausprobiert, sie haben bloß so getan, als ob. Ernst gemeint haben sie es nicht. Eine Vision geteilt haben sie nicht. Die Konsequenzen getragen haben sie nicht. Es wirklich zu Ende gedacht haben sie nicht.
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