Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteiltes Glück ist doppeltes Glück.
Wir teilen gerne in schweren und auch in Glücksmomenten. Wir zehren voneinander, geben uns Halt und Energie. Was aber, wenn aus „teilen können“ plötzlich „teilen müssen“ wird und das auch noch im Job?
Besitzstandswahrung gibt es nicht
Eine immer digitaler werdende Arbeitswelt fordert von uns, dass wir auch im Berufsleben teilen, um schneller zu werden. Unternehmen müssen beweglich und flexibel sein, um auf Veränderungen am Markt schnell reagieren oder besser noch, schon vorher agieren zu können. Das geht nur mit flachen Hierarchien, kurzen Kommunikationswegen und durchlässigen Strukturen. Besitzstandswahrung kann es da nicht mehr geben. Dazu kommt, dass wirklich gute Produkte nicht von einzelnen, sondern in heterogenen Teams entwickelt werden, in denen jeder ein gleichermaßen ausgeprägtes Ownership an den Tag legt. Es liegt auf der Hand, Teilen ist angesagt.
Wie das im Job funktioniert? Wir arbeiten selbstorganisiert. Wir teilen uns die Verantwortung für das Produkt und den Prozess, das Wissen, den Job, den Arbeitsplatz, den Ruhm, den Raum und manchmal sogar die Telefonnummer. Wir rotieren von einem Shared Desk zum nächsten, wir kollaborieren, co- worken und t-shapen, sind vernetzt und holokratisch. Keiner führt mehr, oder man könnte auch sagen: Alle führen. Klasse, wenn das funktioniert. Leider tut es das oft nicht. Warum?
The War of the Uncertain
Für Unternehmen ist der Weg hin zu so einer teilenden Arbeitsweise meist steinig und zäh. Selbst die Euphorie bei den größten Optimisten klingt schnell ab und die Stimmung kippt. Der Kaffee aus der neuen Kaffeemaschine, im hippen Flexible Office, schmeckt nicht. Die Raumakustik ist schlecht, es treten Kommunikationsprobleme auf oder die Bürostühle sind unbequem. Schnell wird aber klar, es geht nicht wirklich um den Kaffee, auch nicht um die Bürostühle oder die Kleinigkeiten. Statt darüber zu sprechen, was uns wirklich stört, schieben wir den Kaffee vor. Dabei bietet das Teilen doch so viele Vorteile. Zusammenarbeiten macht doppelt Spaß, die Ergebnisse sind besser und alle wissen mehr Warum die schlechte Stimmung? Wir sind mitten im „War of the Uncertain“. Wir sehen nicht, was wir gewinnen, nur was wir verlieren. Alle sind verunsichert. Leiden wir alle unter der kognitiven Verzerrung der Selbstüberschätzung oder warum haben wir das nicht kommen sehen?
Geteilter Einheitsbrei muss nicht sein
Die Maslowsche Bedürfnispyramide des US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow von 1943 gibt Hinweise darauf, warum das passiert. Sie beschreibt die unterschiedlichen Stufen menschlicher Bedürfnisse und Motivationen. Inzwischen konnte dieses Modell durch eine empirische Überprüfung mit Daten aus 123 Ländern von 2005 bis 2010 auch weitgehend bestätigt werden. Bedürfnisse, die erfüllt sein müssen, damit wir glücklich sein können, sind unter anderem Sicherheit, soziale Bedürfnisse und Individualbedürfnisse, bis hin zur Selbstverwirklichung.
"In einer Arbeitswelt, in der alles geteilt wird und es keine klaren Rollen, Arbeitsplätze, Profile und Grenzen mehr gibt, verschwimmt oft alles im geteilten Einheitsbrei."
Wir Menschen wollen also wissen, wo unser Platz ist und womit wir uns diesen Platz verdient haben. Das gibt uns Sicherheit und Klarheit. Wir brauchen Anerkennung und Geltung (in unterschiedlichem Maße) und im besten Fall ein geregeltes Miteinander. In einer Arbeitswelt, in der alles geteilt wird und es keine klaren Rollen, Arbeitsplätze, Profile und Grenzen mehr gibt, verschwimmt oft alles im geteilten Einheitsbrei. Das muss nicht sein!
Was können wir tun, um dieser Entwicklung vorzubeugen und möglichst gut mit dem Teilen umzugehen?
Denke an Struktur und Führung
Selbstorganisation, Holokratie, Scrum – egal ob mit oder ohne Framework, oder unter welchem Motto: Teilen wird oft zum ungeplantem Chaos. Dabei bedeutet Teilen nicht die Abwesenheit von Struktur und Führung. Im Gegenteil! Die meisten dieser Rahmen geben sehr klare Strukturen und Rollen vor. Wird selbst eine Organisationsform oder eine Arbeitsweise entwickelt, müssen Rollen und Struktur mitgedacht werden. Diese helfen, um Sicherheit zu geben, wo durch das Teilen Sicherheit abhandengekommen ist. Führung ist entscheidend, zum einen die Selbstführung eines jeden einzelnen, aber auch die Wahrnehmung der Führungsrolle für die Teams. Das kann gerne Shared Leadership sein. Hauptsache es gibt Führung.
Denke an das WHY?
Wann, wo und wozu ist Teilen an welcher Stelle genau wichtig? Teilen, um des Teilens willen bringt genau so viel wie ein Kanban-Board, weil es jetzt alle so machen. Wir vergessen viel zu oft die Sinnfrage zu stellen. Wir tun was alle tun, kneifen die Augen zu und hoffen, dass es schon irgendwie gut sein wird. Meistens wird es das nicht. Es gibt Unternehmen, Teams, Jobs und Themen, bei denen es absolut sinnvoll ist zu teilen. Das Maß und die Ausgestaltung muss aber immer individuell betrachtet und entwickelt werden. Einfach nachmachen funktioniert nicht.
Gehe iterativ vor
Trefft Vereinbarungen und probiert diese eine Zeit lang aus. Sammelt was gut läuft und was nicht. Legt ein Datum fest und wertet in einer Retrospektive aus, was beibehalten werden soll und was ihr anders machen wollt. Jedes Mal entwickelt ihr weiter und es entsteht Stück für Stück euer ganz eigenes Design für sinnvolles und funktionierendes Teilen und selbstorganisiertes Arbeiten.
Nimm Druck raus
Druck erzeugt Gegendruck. Nicht jeder im Team ist extrovertiert. Teilen liegt nicht jedem gleichermaßen. Für alle ist diese Entwicklung ein riesiger Schritt, der Zeit braucht. Rom wurde ja auch nicht an einem Tag erbaut. Wenn der Kaffee mal wieder kritisiert wird oder es kommt zum Streit über Kleinigkeiten, begegne dem Team offen und fragend, statt ungeduldig. Gib` dem Frust etwas Raum und schenke Verständnis. Produktivität kann erst wieder einkehren, wenn die Störung vom Tisch ist. Und wenn wir schon alles teilen, dann doch bitte auch unsere Befindlichkeiten.
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